Geschwisterbeziehungen als Erwachsene,
eine unterstützende Verbundenheit oder unsichtbare Netze, die uns festhalten?
Geschwister – sie sind die ersten Begleiter auf unserer Lebensreise, die Zeugen unserer Kindheit und mitwissende, gemeinsamer Erinnerungen und Geheimnisse. Doch manchmal fühlt sich diese Verbindung nicht wie ein geborgener Ort an, sondern eher wie ein unsichtbares Netz aus Erwartungen, alten Rollen und unausgesprochenen Konflikten. Ein Netz, das uns festhält und daran hindert, frei zu atmen.
In diesem Blogartikel beziehe ich mich auf das Verhältnis zwischen Schwestern, möchte jedoch die Verbindungen von Bruder und Schwester oder Brüdern nicht ausschliessen. Es kann auch jede andere Geschwisterkonstellation einbezogen werden; es ist hier einfacher, jeweils nur eine Form zu erwähnen, um den Lesefluss zu wahren. Wenn du also einen Bruder hattest oder Du der Bruder bist, dann lies es in dieser Form für dich.
Vielleicht kommt dir diese Geschichte bekannt vor:
Als älteste Schwester wurdest du früh dazu erzogen, vernünftig zu sein. Du hast gelernt, Verantwortung zu tragen, bevor du selbst fest auf eigenen Füssen stehen konntest. Wenn es in der Familie stürmte, warst du diejenige, die versuchte, Ausgleich zu schaffen – auch wenn dir der Wind ins Gesicht blies.
Doch diese Rolle hatte ihren Preis: Deine eigenen Bedürfnisse blieben oft im Schatten, während du versuchtest, es allen recht zu machen und gleichzeitig mit deinen Schwächen kämpftest.
Oder vielleicht bist du die jüngere Schwester, die sich in solchen Familienstürmen schutzsuchend an die ältere klammerte, weil die Geborgenheit und Sicherheit – eure Eltern – oft nicht greifbar waren oder überhaupt nicht zur Verfügung standen. Eine Regulierung dieser so verstörenden Stürme fand nicht statt.
Du hast deine ganz eigenen Strategien entwickelt, um gesehen zu werden, dich bemerkbar zu machen, in der Hoffnung, ein wenig von der Aufmerksamkeit zu bekommen, die dir so oft fehlte und du so sehr brauchtest.
Alte Muster – eine mitgenommene Last aus der Kindheit
Die Zeit vergeht, wir werden älter, doch die Rollen, die wir damals übernommen haben, kleben oft wie ein alter Stoff an uns. Als älteste solltest du „die vernünftige und verlässliche" bleiben, die sich kümmert und die Verantwortung trägt – unabhängig davon, wie schwer dein eigener Rucksack inzwischen geworden ist und es eigentlich nie genug ist.
Die jüngeren Geschwister erwarten vielleicht unbewusst weiterhin Sicherheit und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse – schliesslich war es ja immer so.
Doch was passiert, wenn die Last zu gross wird? Du drohst von der Strömung mitgerissen zu werden? Und was, wenn Bedürfnisse auf beiden Seiten unerfüllt bleiben und stattdessen Enttäuschung, Verletzung, Vorwürfe, Konkurrenz oder sogar Kontaktabbrüche die Beziehung belasten?
Warum wir in alten Rollen hängenbleiben
Unsere Geschwisterbeziehungen sind oft durch unsichtbare Fäden mit unseren frühesten Bindungserfahrungen verwoben. Damals haben wir gelernt, was wir tun müssen, um gesehen, geliebt und anerkannt zu werden. Diese Muster wirken wie ein geknotetes Netz (Neuronales Netzwerk), das unser Nervensystem auch heute noch nutzt – selbst wenn es uns längst nicht mehr schützt. Die Dynamik, die sich daraus entwickelte, ist höchst ungesund.
In Konfliktsituationen reagiert unser Nervensystem oft so, als wären wir wieder Kinder: Alarmiert, auf der Suche nach Sicherheit oder aus Angst vor Ablehnung. Im Grunde wissen wir, dass wir uns als Erwachsene nicht mehr rechtfertigen müssen, doch emotional kämpfen wir weiter gegen unsichtbare Stürme. Ein Dilemma, in dem man nicht mehr sein möchte und sich selbst verliert.
Wie du die unsichtbaren Fäden lösen kannst
Es ist möglich, sich aus alten Rollen und Mustern zu lösen und Geschwisterbeziehungen neu zu gestalten – oder sich, wenn nötig, von ihnen zu distanzieren. Das Wichtigste dabei: Veränderung kann nur bei dir selbst beginnen. Erkennen und Benennen ist dabei ein wichtiger erster Schritt.
Hier sind einige Umsetzungsmöglichkeiten, die dir helfen können:
1. Hör auf deine innere Stimme
Wo fühlst du dich in der Beziehung zu deinen Geschwistern überfordert, verletzt, im Konkurrenzmodus oder in eine Rolle gedrängt, die dir nicht entspricht?
In welchen Momenten fühlst du dich verbunden und gesehen?
Deine Gefühle sind wie ein innerer Kompass – sie zeigen dir, dass etwas nicht im Gleichgewicht ist.
2. Setze klare Grenzen
Definiere für dich selbst, was du nicht mehr möchtest, was dir in eurer Beziehung wichtig ist. Kommuniziere deine Grenzen ruhig, aber bestimmt.
Erinnere dich: Du bist nicht für die Bedürfnisse deiner Geschwister verantwortlich. Eine gesunde Beziehung basiert auf gegenseitigem Geben und Nehmen – nicht auf einseitigen Bemühungen und Erwartungen. Ihr seid heute erwachsen und könnt selbst entscheiden, wie ihr eure Beziehung gestalten möchtet.
Wenn das für dein Geschwister bisher nicht möglich ist, sei dir selbst über deine Bedürfnisse klar, auch bezüglich der Häufigkeit des Kontaktes.
3. Sprich aus, was dich bewegt
Wenn möglich, nimm dir die Zeit für ein offenes Gespräch. Teile mit, was dich belastet, und höre auch die Sicht deines Gegenübers an. Manchmal können solche Gespräche wie ein erneuter Sturm sein, der erst wieder alles in Wolken legt, doch es kann auch der Anfang für eine Klärung sein und der Himmel wird vielleicht auch wieder heller.
Wenn Worte schwerfallen, kann ein Brief oder eine E-Mail ein guter Anfang sein.
4. Hole dir Unterstützung, wenn nötig
Manchmal hilft es, eine neutrale Person oder eine Fachperson hinzuzuziehen. Sie kann dabei helfen, indem sie das Gespräch leitet, damit beide zu Wort kommen, um eine neue Basis für eure Beziehung zu schaffen.
Wenn dein Geschwister dazu nicht bereit ist, kann eine neutrale Person auch dir helfen, zu reflektieren, eine andere Sicht auf die Dinge zu bekommen und gemeinsam mit dir herauszufinden, was für dich gerade wichtig und unterstützend ist.
5. Manchmal ist Distanz das einzige
Nicht jede Beziehung lässt sich heilen. Manchmal ist es notwendig, loszulassen, weil ihr gerade nicht die gleiche Sprache sprecht oder eine andere Wahrnehmung habt.
Um dich selbst zu schützen und um euch Raum für die eigene Entwicklung zu geben, kann Abstand oder eine Beziehungspause nötig sein. Das kann schmerzhaft sein, aber dein Wohlbefinden und deine psychische Gesundheit darf Vorrang haben.
Stärke die Beziehung zu dir selbst
Wenn Geschwisterbeziehungen belasten, ist es besonders wichtig, dich selbst zu nähren: Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit sind essenziell, um auch gesunde Beziehungen führen zu können.
• Verbringe Zeit mit Menschen, die dir guttun und dich so akzeptieren, wie du bist. Hier kannst du neue Erfahrungen machen, die dich stärken.
• Erkunde Hobbys oder kreative Tätigkeiten, die dir Freude bereiten – sie sind wie kleine Auszeiten, wenn es im Außen stürmt.
• Achte auf dein Nervensystem. Atemübungen: Bewusst einatmen und länger ausatmen, Bewegung in der Natur oder achtsames Malen können dir helfen, Stress abzubauen und dich immer wieder in Balance zu bringen.
• Scheue dich nicht, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, wenn die Situation dich überfordert, hier ist in sicherer Verbindung, Co-Regulation möglich, das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.
Familie: Ein Band, aber keine Fessel
Die Verbindung zu unseren Geschwistern ist wie ein Fluss, der uns ein Leben lang begleitet. Doch nicht jeder Fluss ist klar und ruhig – manchmal müssen wir erkennen, wo er uns mitreißt, statt uns zu tragen, wo das Wasser stillsteht, braun und undurchdringlich ist und zeit braucht um Klar zu werden.
Es ist kein Verrat, Grenzen zu setzen oder auf Abstand zu gehen, wenn die Beziehung mehr schadet als nährt. Ich möchte nicht sagen, «Zeit heilt alle Wunden», aber Zeit ermöglicht es uns, uns zu entwickeln, und Veränderungen können wirken, so dass sich dennoch etwas wandeln kann und vielleicht wartet in der Zukunft, die eine oder andere Überraschung auch für dich und deine Geschwisterbeziehung.
Manchmal bedeutet Abstand und Loslassen vom Alten auch, eine Vorstellung von einer Geschwister-Beziehung loszulassen.
Am Ende zählt vor allem eines: Deine Beziehung zu dir selbst. Sie ist der sichere Ort, den du dir immer wieder schaffen kannst – ein Ort, an dem du mit deinen Bedürfnissen, Gedanken und Gefühlen willkommen bist. Nur aus dieser Verbundenheit mit dir selbst kannst du authentische und gesunde Beziehungen gestalten.
Entscheide gleich jetzt, dich selbst, mit allem, was dich ausmacht, mit deiner Sonnen- und Schattenseite immer mehr wertzuschätzen und deinem Inneren zu folgen. Du bist es wert, einfach weil du bist.
Viel Freude beim Umsetzen.
Herzlich Daniela
Autorin
Daniela Simmen
Integrative Maltherapeutin, Gestaltungspädagogien und Coach für Neurosystemische Intergration